“Unless it occurs in real time, it does not exist” Kevin Kelly, The Inevitable
Meine Kollegin Kateri schreibt mir bei Facebook: periscope live broadcast of the House of Representatives where Dems are staging a sit-in. Es ist der 22. Juni 2016, 21:45 und die Livebericherstattung via Facebook, Persicope, Skype und Facetime wird in den kommenden Wochen wieder und wieder Thema sein. Hier fünf Kapitel zur Dokumentation eines neuen Status Quo mit neuen Gatekeepern und alten Verhaltensregeln.
22.06.2016 – Politischer Smartphone Sit-in im Kapitol
Was ist passiert? Mehr als 200 Abgeordnete der Demokraten haben den Plenarsaal des US-Repräsentantenhauses blockiert. Mit ihrem Sitzstreik wollen sie erreichen, dass über schärfere Waffengesetze entschieden wird (Zeit). Nachdem die Republikaner, die die Mehrheit im Abgeordnetenhaus halten, die Übertragung des Parlamentsfernsehens (C-SPAN) stoppen, beschließen mehrere demokratische Abgeordnete via Persicope und Facebook Live zu streamen.
Manche, wie der kalifornische Abgeordnete , laden sich auf dem Boden sitzend zum ersten Mal im Leben Persicope auf ihr Telefon, andere, wie der Texaner , nutzen Persicope, Facebook Live und Snapchat ziemlich behände. Zumindest gratuliert O´Rourke zwischendurch noch seiner Tochter zum Geburtstag.
Mark Zuckerberg berichtete später, dass mehr als drei Millionen Menschen die Facebook Liveübertragungen von 19 Mitgliedern des Kongresses angeschaut hätten. Periscope berichtet von rund einer Millionen Zuschauer. Sehenswert: Der TV-Bildschirm von CNN, der als Quellen Periscope und Facetime anzeigte. Zitat: Diese Livestream waren “so new to the American public — it was something authentic and raw and honest. And I think that is what helped turn people on“ Beto O’Rourke.
- Fortune: Twitter’s Periscope Becomes a Lifeline for Democrats After Republicans Turn Off C-SPAN
- USA Today:
- Techcrunch:
- Guardian:
29.6.2016 Live aus dem Flugzeug am Atatürk-Flughafen
Drei Selbstmordattentäter töten am Atatürk-Flughafen von Istanbul 36 Menschen und verletzen mehr als 140 (Spiegel). In einem Flugzeug, das gerade am Flughafen in Istanbul gelandet ist, sitzt der BBC Türkei Korrespondent , der direkt zugeschaltet wird und eine erste Einschätzung gibt. Natürlich hat er noch kaum Informationen, aber er gibt einen Vorgeschmack auf eine Gegenwart, in der immer überall wo etwas passiert, jemand mit einem sendefähigen Smartphone anwesend ist.
Gewöhnen werden wir uns an Schalten bei denen der Korrespondent die Kopfhörer im Ohr hat, die bislang eher mit Musikhören assoziiert wurden. Diskutieren kann man hier natürlich den Mehrwert, aber der besteht zunächst einzig und allein erst mal darin, dass hier jemand am Ort des Geschehens ist und Zeugnis davon abgeben kann, was er oder sie gerade sieht und was er oder sie gerade empfindet.
Hier zeigt sich die Notwendigkeit für alle Journalistinnen und Journalisten im Bedarfsfall 1) mit der Technik umgehen können zu müssen 2) ein Mindestmaß an Handwerk zu beherrschen (Blick in die Kamera, eher Querformat, etc.) 3) die Relevanz von grundlegenden journalistischen Qualitätsstandards – diese werden sich vor allem bei der Live-Berichterstattung aus Nizza bisweilen vermissen lassen.
6.07.2016 Philando Castile – “Es ist ein ungeheuerliches Video”
Am 6. Juni 2016 wird der 32-jährige Philando Castilo von einem Polizisten erschossen. Seine Freundin Diamond Reynolds beginnt kurz nach den Schüssen mit ihrem Smartphone auf Facebook zu streamen. Das Video zeigt ihren Dialog mit dem Polizisten Jeronimo Yanez, Teile ihrer Verhaftung und endet schließlich aufgrund eines leeren Akkus.
Es handelt sich hier nicht um das erste und nicht das einzige Video das Polizeigewalt gegen Schwarze zeigt, aber die dringliche, unmittelbare, intime und verstörende Anmutung lassen das Video zu einem zeithistorischen Dokument werden, das aufzeigt, was dank flächendeckender Verbreitung von Smartphones nicht mehr nur möglich, sondern alltäglich geworden ist, nämlich der Fakt, dass große Teile der mehr als 1,5 Milliarden Nutzerinnern und Nutzer von Facebook immer häufiger Livebilder von nahezu jedem Ort der Welt absetzen.
Damit einher geht eine ungeheure Machtverschiebung von traditionellen Medien hin zu privaten Internet-Unternehmen und ein Rollentausch bei der Gatekeeper-Funktion. Denn nicht die verspätete und dann verpixelt präsentierte Version des Videos bei verschiedenen Medienanbietern (u.a. Spiegel Online) war hier das Entscheidende, sondern das temporär und später von Facebook einem angeblichen technischen Fehler geschuldete Offline-gewesene Video selbst.
Deutlich häufiger als bei dem von deutschen Medien weitestgehend ignorierten Smartphone Sit-in im Repräsentantenhaus wurde über die Rolle des Livestreams geschrieben und diskutiert. Nebensächlichkeit: Für ein Interview zum Thema mit dem Schweizer TV-Sender SRF wurde ich gebeten, bei der Interviewaufzeichnung per Facetime das Telefon trotz besseren Wissens bitte zu halten, damit das “mehr mobile” aussehe.
- Spiegel: Soziale Medien bei US-Schießereien: Der Tod im Livestream
- Sueddeutsche:
- FAZ: Alles muss ans Licht
- Berliner Morgenpost: Fluch und Segen von Livestreams
15.07.2016, Nizza – “Und jetzt kein Livestream”
Kurz vor dem ins Bett gehen, checke ich am Abend des 15. Juli noch mal kurz Twitter und bereue es sofort. Die Chefredakteurin der Bildzeitung retweetet unerträgliche Live-Videos aus Nizza. Ich verdränge die Bilder, gehe schlafen, wache gegen 6 Uhr am nächsten Morgen auf und verbringe fast zwei Stunden mit der Aufarbeitung der Bilder und Tweets und Livestreams und Geschehnisse der Nacht. Um 9:30 beginnt ein Mobile Reporting Seminar bei der Deutschen Welle. Vorher gesetztes Thema: Livestreams.
Ungewohnt heftig wird auf Twitter über die “richtige Art” Journalismus zu betreiben debattiert. Guter Einstieg: die Reaktionen auf den Tweet von Hier seine Berichterstattung. Während die einen manche Journalisten bereits als verlängerten Arm der Terroristen sehen, werfen andere den Kritikern vor einfach sauer zu sein, weil andere ihren Job “besser” machen würden. Hier lohnt sich wie immer – egal um welchen Ausspielweg und welche Quelle es sich handelt – mal der Blick in den Presskodex. Vgl. Bildblog.
15. / 16. Juli 2016 Putschversuch in der Türkei
Präsident Erdoğan befand sich außerhalb Ankaras, als der Putsch begann. Sein Büro ließ vermelden, dass er in Sicherheit sei; andere Quellen gaben an, er habe sich zum Zeitpunkt des Putschs im Urlaub in Marmaris befunden. Erdoğan gab dem Fernsehsender CNN Türk ein Interview über Mobiltelefon, bei dem er die Bevölkerung zum Widerstand gegen die Putschisten aufforderte. In dem über Facetime geführten Gespräch rief Erdoğan die Bevölkerung auf, die vom Militär verhängte Ausgangssperre zu brechen. Dann begab er sich auf den Rückflug nach Istanbul. Während des Fluges zog seine Maschine etwa 40 Minuten lang Warteschleifen über der Südküste des Marmarameeres, bevor sie gegen 3:20 Uhr Ortszeit in Istanbul landete. Quelle: Wikipedia.
Erdoğan’s rule was essentially saved thanks to his use of a new media platform that allowed him to speak directly to his people. The interview he gave on FaceTime is being seen as a new stage in political evolution. Quelle: Ynetnews
- CNBC: For someone who doesn’t like social media, Erdogan used it effectively to put down coup
- Vice: How Facetime Saved the Turkish President from His Country’s Attempted Coup
- Tagesspiegel: Beim Putschversuch fehlte ein echter Nachrichtensender
- Spiegel: Öffentlich-rechtliches Krisen-TV: Nachrichten gefährden Ihre Gesundheit
Es bleibt für einen Moment der geheime und natürlich vollkommen zwecklose Wunsch, den Periscope-Screen von vor 68 Wochen noch einmal und für etwas längere Zeit zu sehen.